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Wohnen zwischen Kunst und Krempel

Von Georg Renöckl, 01. Juli 2017, 00:04 Uhr
Wohnen zwischen Kunst und Krempel
Das MOB-Hotel in der Pariser Vorstadt Saint Ouen ist ein ehemaliges Fabrikgebäude.

Paris: Am Rande des größten Flohmarktes der Welt hat Cyril Aouizerate ein Hotel eröffnet, das keines sein will.

Wo geht’s hier eigentlich zur Rezeption?" Beim Tischfußballtisch angekommen, mitten in einem hübschen Restaurant mit kurzer Speisekarte und langen Bänken, stellt sich so mancher Neuankömmling diese Frage. Isabelle Stephan versteht die Verwirrung, durch die wohl jeder ihrer Gäste durchmuss. Das Haus, das die junge Hotelmanagerin leitet, vereint schließlich alles Mögliche unter einem Dach: ein Bio-Restaurant mit großer Terrasse und Freiluft-Kino, ein urban-gardening-Projekt, zwei Pop-up-Stores – nur wie ein Hotel sieht das frisch renovierte ehemalige Industriegebäude in der Pariser Vorstadt Saint Ouen auf den ersten Blick nicht aus.

Dafür trifft man zu viele Einheimische, die einen entspannten Sonntagvormittag genießen, durch die Pop-up-Läden im Eingangsbereich bummeln und im Restaurant frühstücken, ehe sie sich auf den Weg auf die Dachterrasse machen, um dort in den Gemeinschaftsgärten Unkraut zu jäten und Pflanzen zu gießen. "Man soll sich hier nicht wie in einem Hotel fühlen", erklärt Isabelle, "uns war es von Anfang an wichtig, auch für die Nachbarn da zu sein."

Hipster und Guru

Abends ist das Lokal, in dem sich neues Design mit ausgewählten Stücken vom nahen Flohmarkt mischt und an dessen Tischen man zwanglos miteinander ins Gespräch kommt, gesteckt voll. Neulich gab der Funk-Blues-Musiker Keziah Jones ein Überraschungskonzert: Kultur – auch in Form einer ständig wachsenden Bibliothek – ist ein elementarer Bestandteil der "geträumten Republik", als die Cyril Aouizerate sein neues Projekt vor den Toren von Paris versteht. Sein graumelierter Bart und sein Hang zu extravaganten Kopfbedeckungen lassen den aus Toulouse stammende Hotelgründer mit dem sephardischen Namen wie eine Mischung aus Hipster und Guru aussehen, doch der studierte Philosoph ist ein erfolgreicher Geschäftsmann.

Bei seiner "Mama Shelter"-Hotelkette hat er bereits erfolgreich mit Stardesigner Philippe Starck zusammengearbeitet. Unter dem Namen "MOB" – ein Wort, hinter dem manche die Abkürzung "Maimonide of Brooklyn" vermuten, eine Anspielung auf den bedeutenden sephardischen Philosophen Maimonides – brachte er zunächst durch ein veganes Schnellrestaurant ein Stück Brooklyner Lebensgefühl mitten ins Pariser Marais. Das Hotel in der ruhigen, durch die Métro eng an Paris angebundenen Vorstadt Saint Ouen ist nun der nächste Schritt, weitere MOB-Hotels in Lyon, Washington, Pittsburgh und L. A. eröffnen in den nächsten Jahren. Philippe Starck wird für die Innenarchitektur der amerikanischen Hotels zuständig sein, Kristian Gavoille und Valérie Garcia gestalteten den MOB-Prototyp in Saint Ouen.

Auch dessen rund um den großzügigen Hof angelegte 92 Zimmer in drei Größen durchbrechen die gewohnte Hotel-Routine: Es gibt keine Fernseher, dafür laden Theatervorhänge über den Betten und an Stangen befestigte Silhouetten zum Schattentheater-Spielen ein. Jedes Zimmer verfügt zudem über ein aufblasbares Gästebett: "Freunde dürfen bei uns gratis übernachten", erklärt Isabelle. In Saint Ouen gibt es genügend zu tun. Hat man die Rezeption – die übrigens aus einem Laptop auf einem rohen Baumstamm inmitten der Shops im Eingangsbereich besteht – einmal hinter sich, ist man nur fünf Gehminuten entfernt von der nach Eurodisney bedeutendsten Touristenattraktion der ganzen Region: dem Flohmarkt von Saint Ouen, der sich aus verschiedenen kleineren Märkten zusammensetzt, die alle ihren eigenen Charakter haben.

Vom MOB-Hotel aus gelangt man, der Rue des Rosiers folgend, zunächst zu den beiden Märkten "Serpette" und "Paul Bert". An deren Eingang hat sich Cyril Aouizerates Partner Philipp Starck einen alten Traum erfüllt und ein nicht eben billiges, aber gut besuchtes Flohmarkt-Bistro eröffnet, das "Ma Cocotte" mit schönen Zementfliesen, Bugholzmöbeln und einer verlockenden Speisekarte.

Wer durch den Marché Paul Bert bummelt und die Gegend seltsam vertraut findet, hat wahrscheinlich noch die Bilder aus Woody Allens "Midnight in Paris" im Kopf, der zu einem großen Teil in diesem Bereich des Flohmarkts gedreht wurde. Die Faszination des Altmeisters für die Poesie des Flohmarkts lässt sich auf Schritt und Tritt nachvollziehen. Eine junge Verkäuferin namens Héloïse weiß die Besonderheiten alter Silberbestecke zu erklären und kennt die weit in die Geschichte zurückreichenden Gründe für noch heute gültige Konventionen, wie etwa die abgerundeten Spitzen von Speisemessern: "Es war früher üblich, sich mit den spitzen Messern bei Tisch die Fingernägel oder auch die Ohren zu putzen. Kardinal Richelieu hasste das und sorgte dafür, dass die Spitzen wegkamen", erklärt die studierte Juristin und Kunsthistorikerin, die nach einem Praktikum nicht mehr vom Flohmarkt weg wollte. "Hier zu arbeiten ist ein so poetischer Beruf", meint sie.

Wohnen zwischen Kunst und Krempel
Auf dem Flohmarkt "Paul Bert" vergisst der Flanierende die Zeit. Bild: Renöckl

Kaum ein Verkäufer entspricht dem Klischee des verschrobenen Fetzentandlers, man trifft hier vor allem kreative junge Leute, die auf dem Flohmarkt ihre Freude an nicht alltäglichen Gegenständen ausleben und weitergeben. Seit jeher zieht der Markt Kunstkenner und Designer an. Von John Galliano etwa weiß man, dass er den Marché Vernaison sehr schätzt, den man von Paul Bert kommend über die Rue des Rosiers erreicht, vorbei an Django Reinhardts Stammlokal "La chope des puces", in dem sonntags dem Manouche-Jazz gehuldigt wird.

Vernaison ist der älteste der Märkte Saint Ouens, ein Labyrinth, in dem man sich lustvoll zwischen den alten Marktbuden verlieren kann. Immer wieder machen Berichte von Überraschungsfunden die Runde, doch man muss gar nicht auf eine Da-Vinci-Originalskizze unter einem Stapel alter Filmplakate hoffen, um hier Stunden beim Stöbern und Schmökern zu verbringen: Die Gelegenheit, die eigene Wohnung mit dem einen oder anderen Alt-Pariser Fundstück auszustatten, vom formschönen Porzellan-Lichtschalter bis zum typischen Bistro-Seifenhalter, will genützt sein. Komplette Baccarat-Kristallgläsersets von 48 Stück kann man für den etwas eleganteren Sekt-Empfang kaufen, Möbel vom Lederfauteil aus einem alten U-Boot bis zur Wendeltreppe, verschnörkelte oder ganz schlichte Silberbestecke, schwere alte Korkenzieher, Schlüsselanhänger, Kaffeemühlen, Schaufensterpuppen, stapelweise Postkarten ...

Glanzlicht "La Recyclerie"

Auf der anderen Seite der Stadtautobahn Périphérique, unter der sich Verkäufer gefälschter Markenartikel tummeln, gilt es ein weiteres Glanzlicht zu entdecken: Das in einem ehemaligen Bahnhof der stillgelegten "Petite Ceinture"-Bahnlinie untergebrachte Lokal "La Recyclerie", in dem man nicht nur essen oder Kaffee trinken, sondern auch Bastlerwerkstätten mieten, Hühner füttern und weitere Gemeinschaftsgärten betreuen kann. Es liegt direkt an der Métro-Linie vier – nur für den Fall, dass man den Pariser Norden überhaupt noch verlassen möchte.

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Das Lokal "La Rcyclerie" ist in einem ehemaligen Bahnhof untergebracht. Bild: Renöckl

Tipps

MOB-Hotel: 4–6, Rue Gambetta, 93400 Saint-Ouen. www.mobhotel.com/paris. Derzeit jedes Zimmer €99,–

Ma Cocotte: 106, Rue des Rosiers, 93400 Saint Ouen. www.macocotte-lespuces.com

La Chope des Puces: 122, Rue des Rosiers, 93400 Saint Ouen. www.lachopedespuces.fr

La Recyclerie: 83, Boulevard Ornano, 75018 Paris. www.larecyclerie.com

Informationen zu Frankreich unter at.france.fr

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