Die Anschluss-Komödie der Nazi-Dilettanten
"Die Tagesordnung": Am 28. April (20 Uhr) ist Éric Vuillard, der Star der französischen Literatur-Szene, im Linzer Posthof zu Gast.
Schmale Bändchen über Ereignisse von wuchtiger historischer Bedeutung – mit diesem simplen Konzept hat sich Éric Vuillard an die Spitze der französischen Gegenwartsliteratur geschrieben. Am 28. April wird der Filmemacher und Schriftsteller, dem für seine Erzählung "Die Tagesordnung" 2017 der Prix Goncourt und damit die renommierteste französische Literatur-Auszeichnung zuerkannt wurde, mit ebendiesem Buch im Linzer Posthof zu Gast sein.
"Und nun, meine Herren, an die Kasse!" Éric Vuillard will es so, dass sich der Bankier Hjalmar Schacht mit flapsigen Worten an 24 Vertreter der deutschen Großindustrie gewandt haben soll, die am 20. Februar 1933 ins Berliner Reichstagspalais geladen waren und mit ihren Spenden Adolf Hitler zur Macht verhalfen. Krupp, Bayer, Allianz, Siemens, Opel – sie alle hielten dem Nationalsozialismus die Räuberleiter hin.
Vuillard sammelt Fakten und schlängelt ihnen seine Dialoge und ersponnenen Winkel der Zeitgeschichte entlang. Diese Technik ermöglicht es ihm, Zusammenhänge zu entblößen, ohne Historiker auf die Palme zu bringen. Kaum eines seiner Bücher hat mehr als 140 Seiten, insofern ist auch "Die Tagesordnung" ein Vergnügen für eine Nacht, nach der man kenntnisreicher erwacht.
Beeindruckend, wie Vuillard den sogenannten Anschluss Österreichs offenlegt, wie er, ohne psychologisch zu werden, das Wesen des Austrofaschisten und von Hitler tyrannisierten Diktators Kurt Schuschnigg oder des ursprünglichen "Befriedungskommissars" Arthur Seyß-Inquart darlegt. Es ist ein so offenbarendes wie verdammt unterhaltsames Schwadronieren auf dem Grat der Katastrophe. Wie etwa Seyß-Inquart ab Seite 48 analysiert, dass Anton Bruckners Kompositionen auf die Zwangsneurose zurückgingen, alles zählen zu müssen: Blätter auf Bäumen, Perlen an Halsketten, Wolken am Himmel, das Haar von Passanten.
Wenn Vuillard spricht, redet er mit Händen und Füßen. Wer ihn einmal erlebt hat, der hat ihn auch beim Lesen vor Augen: Die Machtergreifung der Nationalsozialisten dirigiert er auf diese Weise aufgeregt zu einer von devoten deutschen Industrie-Idioten finanzierten Politsatire. Wo man auch hinsieht, nichts als Dilettanten in einer von Goebbels’ Wochenschau behübschten Einmarsch-Komödie mit kaputten Panzern und zahlenden Stecktuchträgern. Schlau und köstlich.
Lassen Sie sich vom Verlag nicht täuschen. Vuillards nun Ende März auf Deutsch erschienenes Buch "14. Juli" ist keineswegs ein aktuellerer Band, der amüsant saloppe Text über die Französische Revolution kam in Frankreich bereits 2016 auf den Markt. Aber erst jetzt verkauft er sich auch bei uns.
Eric Vuillard: "Die Tagesordnung", Posthof, 28. 4., 20 Uhr, Moderation: Julia Willden, Lesung der Übersetzung: Joachim Rathke.
Éric Vuillard
"14. Juli" Erzählung, wie auch "Die Tagesordnung" von Nicola Denis aus dem Französischen übersetzt, Verlag Matthes & Seitz, 131 Seiten, 18,50 Euro.
OÖN Bewertung:
"Die Tagesordnung" (französischer Originaltitel: "L’ordre du jour"), Erzählung, Verlag Matthes & Seitz, 118 Seiten, 18,50 Euro.
OÖN Bewertung:
"Krupp, Bayer, Allianz, Siemens, Opel – sie alle hielten dem Nationalsozialismus die Räuberleiter hin." Solche Fakten müssen sich noch viel mehr ins kollektive Bewusstsein einbrennen. Damit relativiert sich auch die Mär ein wenig, wonach bei steigender Armut in der Bevölkerung automatisch der Faschismus ausbrechen müsse. Muss er nicht. Erstens werden nicht alle Armen zu Faschist_innen (wenn überhaupt welche - viele wurden damals zu Kommunist_innen), und dann geht es auch schon wieder nicht ohne reiche Großspender. Und diese Tatsachen sind gerade jetzt wieder von höchster Brisanz.