Der Gletscherschwund ist "historisch außergewöhnlich"
INNSBRUCK / WIEN. Der derzeitige Masseverlust ist deutlich höher als der Schnitt der vergangenen 6000 Jahre – das zeigt eine wissenschaftliche Studie
Er ist Österreichs zweitgrößter Gletscher: der Gepatschferner im Tiroler Kaunertal, an dessen Westende die 3498 Meter hohe Weißseespitze liegt. Ihr Gipfel diente Gletscherforschern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) als Proband für eine neue Studie. Das Ergebnis: alarmierend. Der derzeitige Masseverlust der Alpengletscher ist deutlich höher als der Schnitt der vergangenen 6000 Jahre. Das zeigen Analysen von Eisbohrkernen, die von der Eiskappe des Gipfels entnommen wurden.
"Die Eiskappe des Gipfels ist wegen der begrenzten Eisbewegung dort die ideale Stelle für einen Vergleich von Klima und Massebilanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart", sagt Andrea Fischer vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung. Insgesamt gebe es dort noch zehn Meter Eis, dessen unterste Schicht etwa 6000 Jahre alt ist.
0,6 Meter Verlust pro Jahr
In der aktuellen Studie hat ein Forscherteam um Andrea Fischer Eisbohrkerne von der Weißseespitze entnommen und analysiert. Die Forscher kombinierten die Ergebnisse mit Daten aus anderen Quellen, etwa historische Aufzeichnungen und instrumentelle Messdaten, die in den Alpen bis 1770 zurückreichen.
Derzeit verliert der Gletscher der Weißseespitze im Schnitt 0,6 Meter Eis pro Jahr. Zwischen 1893 und 2018 sind in Summe rund 40 Meter Eis abgeschmolzen. Die Wissenschafter rechnen damit, dass in etwa zehn Jahren die Eiskappe komplett verschwunden sein wird.
Erstmals durchgeführte meteorologische Beobachtungen an der Eiskappe haben gezeigt, dass in den drei Jahren der Untersuchung der größte Teil der Akkumulation – also der Ablagerung von Schnee – zwischen Oktober und Dezember sowie von April bis Juni stattfand. Zwischen Jänner und März verhinderte Winderosion diese Schneeablagerung.
Die Schmelze fand zwischen Juni und September statt, wobei dies vor allem den frisch gefallenen Schnee betraf und das Gletschereis nur während kurzer Zeiträume, hauptsächlich im August, betroffen war. Doch heute würden schon wenige Tage Eisschmelze für eine negative Massebilanz mit einem vollständigen Verlust der jährlichen Akkumulation ausreichen, sagen die Forscher. Solche Schmelzereignisse auf dieser Seehöhe seien in der Vergangenheit Einzelfälle gewesen.
Solche im Eis gespeicherten Extremereignisse sind für die Forscher von enormem Interesse, weil speziell Ausreißer für die Sicherheit der Siedlungen in den Alpen auch in Zukunft ausschlaggebend sein werden. Die Daten aus den Bohrkernen sollen dabei helfen, Modelle für künftige Hochwasserereignisse zu erstellen.